Frau Dr. Schniewindt, Sie sind Vorsitzende des MAV-Ortsverbandes Neuenrade. Beim traditionellen Ortsverbandstreffen zum Jahreswechsel haben Sie eine Bilanz für 2022 gezogen. Wie fiel die aus?
Wir haben uns zunächst an die Veranstaltung des Vorjahres erinnert. Damals hatten wir zwar die Tarifrunde und die Inflation als Themen vorhergesehen, den Ukraine-Krieg aber natürlich nicht. Später mussten wir dann leidvoll lernen, was sich hinter dem Begriff „Gasmangellage“ verbirgt. Die Entscheidung der Bundesregierung, die leeren Gasspeicher schnellstmöglich zu befüllen, sorgte für einen extremen Nachfrageschub. Auf der anderen Seite traf die gestiegene Nachfrage auf ein reduziertes Angebot durch den Wegfall Russlands als Gaslieferant.
Der Preis für Gas schoss in astronomische Höhen. Der Höchstpreis lag im August 2022 bei fast 350 Euro pro Megawattstunde. Inzwischen ist zwar eine Entspannung eingetreten. In diesem Monat lag der Gaspreis mit 56 Euro unter dem Vorkrisenniveau vor einem Jahr. Damals waren es 77 Euro pro Megawattstunde. Die Speicherfüllstände liegen aktuell bei 80 Prozent. Und wir können ziemlich sicher prognostizieren, dass wir in diesem Winter keine Gasmangellage mehr bekommen werden. Es ist uns aber allen bewusst, dass Energie teuer bleiben wird.
Die Strompreise haben sich im Großhandel in den vergangenen Jahren vervielfacht. 2021 belief sich der durchschnittliche Strompreis auf 96,85 Euro pro Megawattstunde, während er davor im Jahr 2020 noch bei 30 Euro gelegen hatte. In dem ersten Monat dieses neuen Jahres erreichte der höchste Ausschlag bisher 234 Euro je Megawattstunde als Day-Ahead-Preis. Ein hoher Strompreis bremst viele Industrieunternehmen aus, ihre Anlagen klimaneutral umzurüsten.
Was bedeutete das für die Auftragslage und für Ihre Kunden?
Dass auf jeden Fall die Herstellung von Produkten teurer geworden ist. Viele Industrieunternehmen berichten davon, dass sie Preissteigerungen bei ihren Kunden durchsetzen konnten. Viele Preise für Konsumgüter sind jedoch unverhältnismäßig stark gestiegen. Das hat nicht mehr zwingend etwas mit hohen Energiekosten zu tun.
Welche besonderen Herausforderungen gab es für die Industrie im letzten Jahr?
Der Krieg in der Ukraine und die Zero-Covid-Strategie in China haben zu extremen Lieferengpässen bei diversen Bauteilen geführt. Die Fertigstellung von Anlagen verzögerte sich im Maschinenbau damit um bis zu zehn Monate. Dadurch hatten viele Mittelständler eine hohe Kapitalbindung, die bei manchen zu einem existentiellen Risiko anwuchs.
Spüren Sie auch Auswirkungen der gesperrten A45?
Natürlich. Transitverkehr wird verstärkt durchs Hönnetal geleitet. Transporte verzögern sich. Das macht die Logistik teurer. Nun ist auch noch die B236-Brücke in Altena gesperrt, und es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis weitere Straßenverbindungen aufgrund der erhöhten Verkehrslast in der Region ausfallen. Zudem verlängern die Umfahrungen der Sperrungen sowie die täglichen Staus den Arbeitsweg für die Mitarbeiter. Das macht die Situation nicht einfacher, um Arbeits- und Fachkräfte für diese Region zu gewinnen.
Trotzdem erweitern Sie Ihr Firmengelände.
Selbstverständlich werde ich mit unserem Unternehmen aus langer Verbundenheit am Standort bleiben und tatsächlich das Betriebsgelände sogar erweitern. Wenn Sie mich allerdings fragen würden, ob ich heute noch ein Start-up-Unternehmen an diesem Standort gründen würde – vermutlich nicht. Leichter wird die Gesamtlage jedenfalls nicht. Studien besagen, dass in unserer Region die Bevölkerung bis 2040 um 10 Prozent schrumpfen wird.
Welche Energiethemen werden die nächsten Jahre bestimmen?
In der Industrie wird zukünftig viel elektrifiziert, um die Klimaschutzziele zu erreichen. Aber weiterhin fehlen Stromtrassen, die den durch Windkraft erzeugten Strom aus dem Norden in den Süden Deutschlands transportieren. In Südwestfalen wurde beispielsweise der Bau einer Umspannanlage politisch blockiert.
Der Druck, in die Energieverteilung der Länder zu investieren, wird aber zunehmen. Wir müssen Energie dorthin bringen, wo sie gebraucht wird. Die Netze müssen engmaschiger werden, national wie international. Es entsteht z.B. ein Multi-Grid in Nordeuropa, wo mit Wasserkraft erzeugter Strom in Norwegen nach England und Deutschland übertragen wird und mit Windkraft erzeugter Strom aus den englischen und deutschen Offshore- und Onshore-Windparks umgekehrt fließen soll. Denkbar ist auch, dass beispielsweise in Australien durch Sonne erzeugter Strom über Seekabel nach Singapur als ein bevölkerungsstarker und flächenarmer Stadtstaat transportiert wird. Auch wenn das noch 10 bis 15 Jahre dauern wird.
Insgesamt gibt es viele technische Lösungen für die Energiewende. In der Kernfusion ist es erstmals gelungen, mehr Energie zu gewinnen als zu verbrauchen. In Chile ist die weltweit erste Großanlage zur Herstellung von synthetischem, nahezu klimaneutralem Kraftstoff in Betrieb gegangen. Schniewindt-Ingenieure haben für den Herstellungsprozess eine komplexe Verdampfer-Anlage konzipiert. E-Fuel kann ein zusätzlicher Baustein werden, um Mobilität klimaneutral zu bekommen. Denn von dem heutigen Verkehr werden wir nur 10 Prozent in elektrische Mobilität transformieren können. Es tut sich eine Menge. Was wir in Deutschland allerdings brauchen, ist eine technologisch ergebnisoffene Diskussion. Die politische Diskussion über E-Mobilität wird zu oft politisch verblendet geführt.